Vorbemerkung: Ein Narr, wer annimmt, das Match gegen den SC Hoyerswerda sei eines wie
jedes andere. Es gibt 1000 Gründe, die dagegen sprechen. Hier drei nahe liegende:
1. Spitzenspiel: Hoyerswerda und Hainichen zieren nach zwei Spieltagen
verlustpunktfrei und mit jeweils zwölf Brettpunkten die Tabellenspitze der
Sachsenliga.
2. Auswärtsfluch: Bei zwei Gastspielen in Hoyerswerda gab’s für uns jeweils einen Satz
heiße Ohren, ich glaube, mit 2:6 und 3:5
3. Offene Rechnung: Am letzten Spieltag der vergangenen Saison reiste Hoyerswerda
erstmals in die Gellertstadt und verlor gegen sechs (!!!) Hainichener Kämpfer mit
4,5:3,5. Und das, obwohl sie vor dem letzten Spiel nur einen Punkt hinter dem
späteren Aufsteiger Leipzig-Gohlis II rangierten. Hui hui hui – ob sie das gelassen
verkraften haben?! Oder ist eventuell die Nachfrage nach psychotherapeutischen
Behandlungen in Nordostsachsen ab April 2006 sprunghaft (und für Experten
unerklärlicherweise!) angestiegen?!
Unchristlich frühes Aufstehen (und das zum Sonntag!), eine lange, beschwerliche Anreise und
eine für Spitzenspiele typische Anspannung, die einem zunächst das Adrenalin durch die
Adern jagt und einen in der Folge merken lässt, dass sechs Stunden Schlaf keinesfalls zu viel
sind ... das alles zählt jetzt nicht mehr – im Kampf „Mann gegen Mann“. Bitte stellen Sie Ihre
Sitze in eine aufrechte Position: Das Drama beginnt!
1. Akt: Sie haben Othello gelesen?! Maria Stuart?! Wenigstens Faust?! Na also. Dann wissen
Sie ja, zu Beginn des Dramas geht es gewöhnlich gemächlich zu – Blut fließt am Ende! Nach
etwa einer Stunde waren wir besser ins Spiel gelangt als der MSV Duisburg in so manche
Zweitligapartie (Nein, mir werden die Fußball-Metaphern nicht ausgehen. NIEMALS!!!). Bis
auf Mathias hatte niemand größere Probleme zu lösen. Der Pohlman behandelte die
Eröffnung mit Schwarz jedoch zu handzahm (Tztztz, wir sind hier doch nicht im
Streichelzoo!). Dafür standen mit Jan, Peter, Norbert und mir gleich vier Akteure zumindest
leicht besser. Marcel, Detlef und Daniel beschlossen, vorerst auf „Laden zusammenhalten“ zu
spielen. Nach etwas über einer Stunde entschied ich mich für den sagenumwobenen (oder
etwa nicht?) Spatzen in der Hand und offerierte Jiri Lechtynsky die Punkteteilung, die er nicht
auf Kosten lang anhaltender Bauchschmerzen ablehnen wollte (Quasi „Der Pate“-like: “Ich
machte ihm ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte.“). Somit war der Bann gebrochen –
der Punktereigen konnte beginnen.
2. Akt: Tat er aber nicht. Die folgenden anderthalb Stunden gab es keine Bewegung auf den
Punktekonten – wohl aber auf den 64 Feldern. Nur Jan stand immer noch viel versprechend
und hatte noch dazu auf der Uhr knapp eine Stunde Polster. Peter und Norbert konnten ihre
vormaligen (Nur optischen?) Vorteile nicht verdichten und eine Prognose ihrer Partien fiel
zunehmend schwerer. Nicht so bei Marcel und Detlef. Beide verfolgten nach bequemer
Eröffnung einen letztlich fehlerhaften Plan und gerieten massiv ins Hintertreffen. Dazu noch
Mathias’ Ruine. Hmm, wer fehlt noch? Ach ja, DJ: Das war wohl ein Satz mit x, denn Daniel
Juhrs (bei ihm seien Vor- und Nachname nur aus Spitznamenerklärungsgründen angeführt
und nicht etwa, weil er von uns zum Beispiel gemobbt wird) konnte mit Weiß nicht den
Hauch von Vorteil nachweisen. Ich will dem Regisseur ja nicht reinreden, aber für das Ende
von Akt zwei schlage ich die düsteren und schwermütigen Bühnenbilder vor.
3. Akt: Der erste Höhepunkt des Dramas – es gibt Entscheidungen zu vermelden. Nach dem
sich abzeichnenden Remis von Daniel, kann Jan seinen Gegner durch Druck auf dem Brett
und der Uhr sicher bezwingen ... eine Partie aus einem Guss (und zu diesem Statement kann
ich mich bei Jans Ligapartien oft nicht so leicht wie diesmal hinreißen lassen). Weiter so!
Aber nicht so, Norbert. Zwar geht die Punkteteilung an Brett acht in Ordnung, aber etwas
mehr erhofft hatten wir uns trotzdem – auch wegen der noch offenen (nichts Gutes für uns
verheißenden) Partien. Apropos: Nach knapp vier Stunden streckte Detlef (nach vorher
lupenreinen 2/2) erstmals im Trikot der Gellertstädter die Waffen. Nach einer
problematischen Stellung und einem weiteren Schnitzer war der Rest Schweigen. Schade nur,
dass das in seinem Falle nicht Gold nach sich zog ...
4. Akt: Der Himmel verdüsterte sich weiter. Zwar stand es immerhin noch 2,5:2,5 – aber
Marcel und der „Pohlman“ standen klar auf Verlust, während Peter den Eröffnungsvorteil
über den Umweg kritische Stellung in ein Osterei zu verwandeln drohte. Bei 2,5:5,5 würde
niemand von einem Schlachtfest sprechen, dachte ich so bei mir. Aber ernüchternd wäre es
für uns als Co-Tabellenführer schon gewesen.
In mittlerweile beiderseitiger Zeitnot konnte Mathias den „Lappen“ nicht mehr verteidigen. Er
hatte sich in der perspektivlosen Stellung immerhin lange gewehrt, aber letztlich war die
Niederlage durch das Spiel auf ein Tor unausweichlich. Die Gellertstadtkogge droht an dem
Eisberg zu zerschellen.
Nun bahnt sich wohl das an, was Dramentheoretiker mit dem „retardierenden Moment“
bezeichnen. In horrender Zeitnot und schwer zusammen zu haltender Stellung gelang es Peter,
seinen Gegner zu beschäftigen. In beiderseitiger Zeitnot zog der schließlich die Notbremse
und nahm das Remisangebot an. Durch den Stand von 3:4 war zumindest klar, die
Entscheidung würde erst im letzten noch laufenden Duell fallen.
5. Akt: Aber welche Optionen gab es? Günther Jahnel hatte gegen Marcel die volle Kontrolle
über das Brett, einen Bauern mehr und noch dazu einen gedeckten Freibauern auf g7 bei
offener schwarzer Königsstellung. Na, schönen Dank auch! Das einzige Plus war die Zeit.
Marcel hatte noch etwa 90 und Jahnel 30 Minuten. Mit jeder Minute, die verrann, wurde die
Traube um Brett zwei größer. Marcel gelang es zumindest, unmittelbare K.o.-Drohungen zu
parieren, aber an mehr war nicht zu denken. Und Jahnel? Klar, der wollte mehr als nur Remis,
qualifizierte „Fritz“ diese Phase mit durchschnittlich „+ 5“ doch als indiskutabel für Schwarz
ab. Aber wo war der entscheidende Schlag? Noch 20 Minuten für Jahnel. Mal mit dem Turm
aktiv werden, Dame und Bauern angreifen. Keine Überraschung, Marcel muss die Dame
zurück ziehen. Aber hängt der Bauer wirklich oder kommt Schwarz dann zu Gegenspiel
gegen den schützenden Bauern h3? Noch 12 Minuten. Na ja, der Bauer f5 läuft ja nicht weg.
Aber er wird durch Lf3-g4 gedeckt!!! Und der gefesselte Bauer auf h3 hängt durch die
schwarze Dame auf h6. Zu allem Überfluss ist nun der weiße Turm vom Hinterland
abgeschnitten. Noch 6 Minuten. Deck ich den h3 mit der Dame? Ja, was soll dann noch
gehen? Also los – halt! Der Turm b8 könnte dann eindringen. Oder doch nicht? Wer soll das
denn noch alles berechnen können?! Noch 3 Minuten. Verdammt, was dann? Na gut, dann
eben h3-h4, ist von der Dame auf e1 gedeckt. Dumm nur, dass der Läufer g4 nun zementiert
wurde. Aber ansonsten ... Tb1! Schock!!! Ist der zu nehmen? Dann hängt der h4 mit Schach
und – noch 2 Minuten – Dame und Läufer „kümmern“ sich um den schutzlosen weißen
König. Das hält nicht, oder? Noch eine Minute. Okay, okay, cool bleiben. De1-g3 hält den
Bauern h4 und schützt den König. Tf1! Panik. Ruhe. Dann – nichts mehr. Tf3 ist nicht zu
entkräften. Nur ein paar Alibizüge noch, dann war es amtlich: Marcel konnte – nach
mehrfachen zwischenzeitlichen Aufgabe-Gedanken – diese Dschungelschach-Partie also
tatsächlich für sich entscheiden und sorgte somit für tosenden Jubelsturm im (Hainichener)
Publikum. Zufrieden verließen die Bürger diese heilige Stätte, sie waren gerade (mitwirkender
oder passiver) Zeuge eines atemberaubenden Schauspiels geworden. Es trägt folgenden
selbsterklärenden Titel: Der aufhaltsame Aufstieg des Marcel Gehmlich.
Fazit: Noch nach zwei Stunden sah es für uns nach mehr als einem 4:4 aus. Als wir unsere
Chancen in den Stunden drei und vier dann jedoch ungenutzt ließen, war der Zug an und für
sich abgefahren. Die unerhört glückliche letzte Phase des Matches sollte Warnung und
Ansporn zugleich sein: Zum einen ist man nicht immer derart mit Caissa im Bunde, aber zum
anderen gewinnt man so auch Titel. Sollte es Ihnen bis hierhin entgangen sein
(Unvorstellbar!): Auch dieses Drama hat eine tragische Figur. Günther Jahnel musste in
seinem Streben nach dem höchsten Gut (= dem Partiegewinn im Schach) mental den
Giftbecher leeren und sank in sich zusammen.
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